
Meine Krankheit brach zwar erst im Erwachsenenalter aus, klopfte aber in meiner Kindheit bereits zart an. Wirklich unüberhörbar wurde das Anklopfen erst mit 29. Ich war schwanger mit dem Söhnchen und von der Schwangerschaft, sagen wir es so, ziemlich ernüchtert. Ich hatte mich jahrelang darauf gefreut und mir diese neun Monate als magische, wunderschöne Zeit ausgemalt. Die Realität sah anders aus. Mir tat alles weh, ich war extrem erschöpft, ich zwang mich zu Spaziergängen, weil „Bewegung sein muss“, aber sie waren eine wahre Tortur und am liebsten hätte ich sie bleiben lassen.
Mit jedem Kilo, das ich zunahm, wuchs mein Unwohlsein. Ich schleppte mich in die Arbeit, weinte daheim vor Erschöpfung, aber da es meine erste Schwangerschaft war, ging ich davon aus, dass mein
Zustand wohl normal sein musste.
Aber auch nach der Geburt ging es mir nicht besser. Ich erinnere mich heute mit großem Amüsement an den Rückbildungskurs, in dem alle um mich herum superdynamisch ihre Beckenböden
schwangen.
„Nicht absenken!“ rief die Kursleiterin enthusiastisch. „Stellt euch vor, unter eurem Rücken liegt ein kleines Igelbaby, das ihr nicht zerdrücken dürft!“
Mein Igelbaby hatte längst das Zeitliche gesegnet, ich lag platt in der Mitte, unfähig, mich zu bewegen, und hasste alle Welt und ihren Hund und wollte nach Hause. Und konnte wirklich nicht verstehen, warum alle um mich so gut mitmachen konnten und ich nicht.
„Wenn du erst abgestillt hast, wird es besser“, tröstete meine Mama, aber auch das trat nicht ein. Im Gegenteil. Meine Ärztin stellte extrem erhöhte Entzündungswerte fest und begann, mich auf eine über zweijährige Odyssee zu Experten zu schicken. Ich war überall, absolut überall. Und durfte mir verdammt oft anhören, das sei eindeutig psychosomatisch.
Als ich meine Diagnose bekam, war ich erstmal völlig aus dem Häuschen. Und danach habe ich geweint. Wegen all dieser abfälligen „Da ist nichts, das ist alles in Ihrem Kopf“-Kommentare der vielen
Ärzte, die nur ihre eigene Ahnungslosigkeit überspielen wollten. Und wegen all der „Jetzt gib dir doch mal ein bisschen Mühe“-Momente meiner Kindheit. Wegen des verächtlichen „Wenn man halt so
unsportlich ist wie du“ damals im Fitnessstudio, als ich die Sit-Ups nicht so ausführen konnte wie gezeigt. Ein typisches Pompe-Symptom, wie ich mittlerweile weiß.
Wegen all der Situationen, in denen mir Faulheit und mangelnde Motivation vorgeworfen wurde, und in denen ich mit hochrotem Kopf noch mehr versuchte irgendwelche Vorgaben zu erfüllen, die ich einfach nicht treffen konnte. Nicht weit genug werfen konnte, keine Rolle am Reck schaffte, mir beim Ballett die Beine zitterten vor Anstrengung.
Ich bin kein unsportlicher Mensch, war früher gut im Ballett und Schwimmen, Snowboarden, Basketball und Hockey. Aber in allem, wozu ich starke Arme gebraucht hätte, versagte ich regelmäßig. Ich
habe stets einen Witz daraus gemacht: „Ich hab vier Brüder, ich musste halt nie irgendwas Schweres schleppen, ha ha.“ Aber mich irritierte diese Schwäche auch. Wenn ich mir zum Beispiel keine
komplizierteren Frisuren flechten konnte wie andere Mädchen, weil ich meine Arme einfach nicht länger oben halten konnte. Oder Liegestützen partout nicht hinbekam, egal, wie oft ich
trainierte.
Nicht ein Mal hat sich jemand darüber Gedanken gemacht, dass ich das vielleicht wirklich nicht konnte. Aber mich tröstet die Gewissheit, dass ich mein Bestes gegeben habe und den Umständen entsprechend doch immer sehr gut mithalten konnte.
Aufgrund meiner Erfahrungen versuche ich, mich stets daran zu erinnern, dass man in anderen nicht drinsteckt. Und dann auch nicht urteilen sollte. Das habe ich auch meinen Kindern mitgegeben. Ihr wisst nie, warum jemand etwas nicht kann, anders aussieht, sich auf eine Art und Weise verhält. Im Übrigen oft nicht einmal bei nahestehenden Personen.
Und mit Diagnose?
Man sieht mir nichts an, und doch bin ich eine der Menschen, die immer unten am Fuße der Rolltreppen steht und wartet, weil das Treppensteigen so unangenehm und zum Teil schmerzhaft ist. Oft
fixieren mich Menschen provokativ, während sie betont langsam die Rolltreppe hinunterkommen: Die kann ja wohl auch laufen, warum soll ich mich beeilen?
Ich bin froh, wenn ich bei längeren Strecken in Zug, Bus oder U-Bahn sitzen kann, und habe dafür schon so manch bösen Blick geerntet. Wieso muss diese scheinbar gesunde Frau einen Sitzplatz
blockieren?
Ich fahre jedes Jahr mit meiner ganzen Familie zu irgendeinem Hüttenwochenende in den Bergen, bei dem alle die komplette Zeit Berge hoch- und runterrennen und keiner auch nur eine Sekunde lang
daran denkt, dass ich das nicht mehr kann. Wenn sie keine Lust hat mitzugehen, soll sie halt im Ferienhaus warten.
Ich habe zahlreiche so genannte Freunde auf dem Weg verloren, weil ich oft müde bin, erschöpft, nicht unternehmungslustig. Selbst gute Freunde vergessen gern, dass ich eine Grunderkrankung haben,
und reagieren überrascht bis verständnislos. Dann treffen wir uns halt nicht mehr, wenn sie nie Lust hat.
Versteht mich nicht falsch, ich bin sehr froh, dass man mir den Pompe nicht ansieht. Trotzdem kränkt es mich oft, wie fix die Urteile gesprochen werden, ohne dass Menschen sich die Mühe machen,
mal nachzufragen oder Verständnis zu zeigen.
Das war selbstredend bei meinen Kindern nicht anders, die vor ihrer Diagnostik als unverschämt, respektlos, überdreht und "unerzogen" abgestempelt wurden. Und ich als Rabenmutter natürlich wieder
gleich mit, "das passiert, wenn Kinder zu Hause nie das Wort nein hören und ihnen keinerlei Grenzen gesetzt werden."
Kennt Ihr das auch, und wie geht Ihr damit um?

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