Wie sieht ADHS für Euch aus?

„Dein Schulranzen sieht aus, als wäre er explodiert“, sagt die Lehrerin zum Töchterlein im Entwicklungsgespräch. Töchterlein lacht vergnügt und nur ein ganz klein wenig verlegen und rutscht
auf ihrem Stuhl hin und her, bevor sie aufspringt und wegläuft, um auf dem Besen durchs Klassenzimmer zu reiten.
Lasst uns kurz über Ordnung sprechen. Beziehungsweise ihre komplette, schmerzhafte, sehnsuchtsbegleitete Abwesenheit in unserem Haushalt. ADHS sind für mich kleine bunte Unterhosen,
die überall in der Wohnung herumliegen. Das Töchterlein hat öfters am Tag das Bedürfnis, JETZT SOFORT das Modell zu wechseln. Das alte fällt dort zu Boden, wo sie gerade eben steht und geht, und
wird an der Stelle seinem Schicksal überlassen. Es ist egal, wie oft ich es wiederhole: Nein, sie legt sie weder in den Wäschekorb noch an die Treppe, damit wir ihn zu besagtem Korb mit hinunter
nehmen können.
Ganz im Gegensatz, sobald sie auf dem Boden liegen, verschmelzen sie für sie optisch mit dem Hintergrund. Ich dachte mir früher oft: Das kann doch nicht sein, dass sie, wenn sie ins Badezimmer
geht, die knallpinke Strumpfhose nicht sieht, die sie vor der Dusche einfach hingeschmissen hat. Die sieht sie und fühlt sich nicht zuständig! Ha!
Dann zitierte ich sie heran, wies anklagend auf das Corpus Delicti und schimpfte, sie solle das wegräumen, und zwar pronto. Das machte sie dann zwar, aber wenige Minuten später lag irgendwo das
nächste Teil. Es änderte nichts, sondern trieb mir permanent den Puls hoch. Bis mir die wunderbare Therapeutin meiner Tochter erklärte, sie sei tatsächlich nicht in der Lage, diese deplatzierten
Gegenstände als deplatziert zu erkennen. Sie sähe sie, aber sie störten sie nicht und lösten in ihrem Kopf kein: Oh je, wegräumen, das gehört da nicht hin aus wie bei mir. Seitdem räume ich
selbst weg. Ich ärgere mich nicht mehr, sondern beseitige selbst, und spare mir einige Magenschmerzen.
ADHS ist aber leider noch so viel mehr. Es sind für mich Schulhefte, die aussehen, als seien sie in einen Löwenkäfig geraten und danach dem Tier gewaltsam wieder entrissen worden.
ADHS ist für mich eine lange Liste an Dingen, die täglich vergessen und verloren werden und meist nie wieder auftauchen. Schirme, Socken, Jacken, Schuhe, Wasserflaschen, Liste beliebig fortsetzbar.
ADHS ist für mich der Anblick eines chaotischen Kinderzimmers und einer meist chaotischen Wohnung, mit zu vielen Dinge an Orten, wo sie nicht sein sollten.
„Wenn Sie Ordnung wollen, müssen Sie sie selbst herstellen“, sagt die Caritas-Beraterin, die wir aufsuchen, als die Dinge beginnen, schwierig zu werden. „Das können Sie von den Kindern nicht erwarten.“
ADHS sind für mich viele, viele zweckentfremdete Gegenstände, die dadurch kaputtgehen.
ADHS sind offene Schubladen.
ADHS sind Wäscheberge überall.
ADHS sind Scherben. Dreck. Verknülltes Papier. Zerbrochenes Plastik, verkratzte Möbel, befleckte Kleidung, ruinierte Teppiche (Acrylfarbe!). ADHS sind Kindertränen, weil schon wieder etwas kaputtgegangen oder unauffindbar ist.
„Ich finde es viel gemütlicher, wenn alles überall rumliegt und nicht weggeräumt ist“, erklärt mir das Töchterlein, nachdem ich zwei Stunden lang das Kinderzimmer in einen für mich
akzeptablen Zustand zu bringen versucht hatte und jetzt entsetzt auf das erneute Chaos starre.
Und da, genau da, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Dort, wo ich stehe, befindet sich dieser berühmte verlorene Posten, von dem immer alle reden. Solange die Kinder sich im Chaos wohler fühlen, werden auch mein Mann und ich uns dort einrichten müssen, denn sie werden stets versuchen, diesen Zustand wieder herbeizuführen.
Seitdem probieren wir eine Mischform. Das Kinderzimmer darf chaotisch sein, ist die Schmerzgrenze erreicht, räumen wir "alle zusammen" auf. Und ja, das läuft genau so ab, wie Ihr Euch das
vorstellt: Töchterlein kriegt nach zwei Minuten einen Schwächeanfall, Söhnchen verdrückt sich aufs Klo, Eltern räumen auf.
Auch der Rest der Wohnung wird von uns Eltern aufgeräumt und gesäubert. Immerhin sind wir diejenigen, die es ordentlich haben wollen, nicht die Kinder.
Sisyphos hätte seine wahre Freude an unserer Wohnung – allein die bunten kleinen Unterhosen, die ständig irgendwo aus dem Nichts auftauchen!
Was ist ADHS für Euch, und, Gretchenfrage, wie haltet Ihr es mit dem Chaos?

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